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Weihnachten, Version 1.2

Von Max Werschitz

Ursprünglich während meines Erasmus-Aufenthaltes in Manchester kurz vor Weihnachten 2003 auf Englisch geschrieben, Weihnachten 2011 auf Deutsch übersetzt, und schließlich Weihnachten 2018 nochmals überarbeitet.

WUNSCHZETTEL AN DAS CHRISTKIND

– Rollschuhe
– das gelbe Legoflugzeug
– eine Katze! (aber bitte nicht Mama sagen, die glaubt ich bin alärgisch!)

Als ich ein Kind war gab es keinen Weihnachtsmann. Oder zumindest wäre er mir nicht aufgefallen. Stattdessen brachte das Christkind, mit goldenen Locken und gutmütigem Lächeln, allen Kindern die Geschenke. Ich war mir aber nie ganz sicher wie das Christkind eigentlich aussah. Trotz der vielen Bilderbücher mit Weihnachtsgeschichten, die ich jedes Jahr aufs Neue verschlang, war es für mich eher eine vage Vorstellung, eine nicht näher definierbare Gestalt aus Licht, mit unerklärlicher Schönheit. Und ich konnte mir auch nicht wirklich vorstellen wie seine Stimme klingen würde.

Also nahm ich, ein unbeirrbar von sich selbst überzeugter Achtjähriger, mir eines frühen Dezembertages vor zu handfesten wissenschaftlichen Methoden zu greifen um meine Neugier endlich zu befriedigen. Ich beschloss mich an Heiligabend, kurz vor der Bescherung, unter dem Wohnzimmersofa zu verstecken, und so das Christkind auf frischer Tat zu ertappen.

Mir war klar dass dieses Vorhaben auf mindestens ein logistisches Problem stoßen würde: meinen Vater. Das Prozedere für den 24. war genau festgelegt. Zu Mittag schmückten wir gemeinsam im Wohnzimmer den Christbaum, dann wurde die Tür, die ein großes Glasfenster hatte, mit einer Decke verhangen und das Zimmer durfte nicht mehr betreten werden, damit das Christkind in Ruhe seine Geschenke abliefern konnte. Dies tat es natürlich immer erst ganz kurz vor der Bescherung (weil es ja auch die Kerzen am Baum anzünden musste, so erklärte ich es mir), also gleich nachdem wir von der spätnachmittäglichen Kindermesse zurückgekehrt waren. Mein Vater ging dann immer alleine ins Wohnzimmer, um zu überprüfen ob schon alles fertig war, dann läutete er mit einer kleinen Glocke, und schließlich durften wir alle zur Bescherung.Ich musste also einen Weg finden um mich ungesehen hineinzuschleichen bevor das passierte. Ich verbrachte die nächsten Abende mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke, heimlich meinen Plan ausheckend, und kam mir dabei wie ein mutiger Abenteurer vor.

Schließlich war Heiligabend endlich da, und ich war bereit. Nachdem wir – meine Eltern, meine beiden Großeltern und ich – von der Kirche zurückgekehrt waren und sich die anderen im Vorraum noch aus den dicken Winterjacken schälten und den Schnee von ihren Schuhen klopften, schlüpfte ich in Windeseile aus meinen Sachen, rief „Ich muss aufs Klo!“ und düste los. Mit einem Filzstift malte ich das kleine weiße Feld unter der Klinke, das anzeigte dass die Tür unverschlossen war, rot an, zog die Tür von aussen zu, drückte zur lückenlosen Tarnung auch noch auf die Schalter für Licht und Lüftung, und schnappte mir die zuvor auf einem Bücherregal im Gang versteckte Taschenlampe. Dann schlich ich ins Wohnzimmer. Dort musste ich erst Mal einen Moment stehenbleiben um Luft zu holen. Ich war so aufgeregt, dass ich komplett vergaß die Taschenlampe einzuschalten, stattdessen tastete ich mich im Dunklen zum Sofa und kroch darunter.

Bald darauf konnte ich die sich nähernde Stimme meines Vaters hören, der dem Rest der Familie wie immer sagte sie sollten warten während er nachschauen ging ob auch alles bereit war. Mein Herz fing zu rasen an. Papa, noch nicht, das Christkind war ja noch gar nicht da! Doch da öffnete sich auch schon die Tür, und zwei Füße in dicken Weihnachtssocken spazierten nur wenige Zentimeter vor meinem Gesicht vorbei. Ich geriet in Panik. Ich war zu langsam, ich habe das Christkind verpasst! dachte ich. Aber warum brennen dann die Kerzen nicht? In dem Moment ging das Licht an der Decke an, und ich konnte sehen dass keine Geschenke unter dem Baum lagen. Ich seufzte fast hörbar vor Erleichterung. Oh, das Christkind hat sich nur verspätet, und Papa wird einfach warten oder ihm vielleicht sogar helfen dürfen! Mein Blick richtete sich nun wie gebannt auf die Tür zur Terasse. Keine Regung. Oder kommt es durch das Fenster? Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen konnte ich hören wie mein Vater einen Schlüssel in das Schloß des großen Schranks am anderen Ende des Zimmers schob und umdrehte. Scharniere quietschten. Dann tauchten seine Füße wieder vor mir auf, und kurz darauf seine Hände, und in ihnen ein Stapel Geschenke, den er vorsichtig unter dem Baum deponierte. Meine Gedanken rasten. Was macht er da? Wo ist das Christkind? Warum hat es die Geschenke in diesen blöden Kasten gesperrt? Plötzlich drehte mein Vater sich um und ging genau auf mich zu. Er hat mich entdeckt! Doch anstatt sich unter das Sofa zu beugen stieg er auf es, und machte sich an dem Regal darüber zu schaffen. Mit der kleinen Glocke und einem Feuerzeug in der Hand stieg er wieder herunter und ging zurück zum Baum, zündete die Kerzen an, schaltete das Wohnzimmerlicht aus und öffnete die Tür.Ich war total verwirrt. Wie in Trance kletterte ich aus meinem Versteck und hörte, dumpf als wäre alles am anderen Ende eines langen Tunnels, meinen Vater meine Mutter fragen ob ich schon wieder aus dem Klo gekommen war. Ich glaube in dem Moment wünschte ich mir ich wäre tatsächlich dort gewesen, auch wenn es keine besonders rühmliche Tätigkeit ist, in vermeintlicher Anwesenheit von Gottes Sohn gleich nebenan.Ihr hättet sein Gesicht sehen sollen als sich mein Vater schließlich umdrehte und mich in der Tür stehend entdeckte, die unbenutzte Taschenlampe immer noch in meiner Hand. Die Glocke läutete wie jedes Jahr, aber dieses Mal weil er sie vor Erstaunen zu Boden fallen ließ.

– Ein Jahr später –

WUNSCHZETTEL AN MAMA UND PAPA

– Rollerblades (Rollschuhe sind uncool)
– ein neuer Fußball
– das Indiana Jones Computerspiel
– mindestens drei neue Schreckenstein-Bücher
– und bitte bitte ich will eine Katze der Arzt ist blöd ich bin nicht allergisch!

– Viele Jahre später –

Ich hatte inzwischen nicht wirklich eine Ahnung an was die Kinder heutzutage glaubten – das Christkind, den Weihnachtsmann oder einfach die Kreditkarten ihrer Eltern. Eines wusste ich aber genau: obwohl ich nicht religiös war wollte ich unserer Tochter den Glauben an das Christkind, und vor allem an ein Weihnachtsfest das mehr bedeutet als Geschenke und ein brandschutztechnisch fragwürdigen Baum in der Wohnung, so lange wie möglich erhalten. Seit sie zwei Jahre alt war hatten also meine Frau und ich sichergestellt dass Heiligabend stets ein magisches Erlebnis für sie war. Das Ritual war dem aus meiner Kindheit sehr ähnlich, allerdings hatte ich mir ein paar Upgrades ausgedacht – für ein „Weihnachten Version 1.2“, sozusagen.

Upgrade Nummer 1 war ein rotierender Lichtstrahler der sich per Fernsteuerung einschalten ließ, Nummer 2 eine Wohnzimmertür die ebenfalls mit einer großen Scheibe, aber aus Milchglas, versehen war, und Upgrade 3 ein Bündel von Vorsichtsmaßnahmen die dafür sorgen sollten dass unsere Tochter nicht allzu früh eine ähnliche Enttäuschung erleben musste wie ich. Gleich nach dem gemeinsamen Schmücken des Christbaumes legte ich also heimlich die Geschenke unter den Baum, platzierte den Lichtstrahler, und sperrte schließlich die Tür gut zu. Am Abend versammelten wir uns dann alle davor, und löschten bis auf zwei bereitgestellte Kerzen alle Lichter. Ich ging dann mit einer davon alleine in das Wohnzimmer um jene am Baum anzuzünden; das sei, so hatten wir unserer Tochter erklärt, das Zeichen für das Christkind dass wir bereit waren. Wieder zurück im Vorraum wartete ich ein wenig bis ich schließlich mit der Fernsteuerung für ein paar Sekunden den Strahler einschaltete. Während dessen Licht wie ein kleines Feuerwerk durch das Wohnzimmer tanzte und seinen Schein durch die Milchglasscheibe auf unsere erwartungsvollen Gesichter warf, glaubte manchmal sogar ich selbst dass da gerade das Christkind höchstpersönlich am Werk war. Schließlich ging ich als erster ins Wohnzimmer, läutete die kleine Glocke, und wartete auf den Rest meiner Familie.

Dieses Jahr sollte es nicht anders sein. Unsere Tochter war inzwischen acht Jahre alt, und ihr Glaube an das Christkind und dessen Besuch an Heiligabend unerschüttert. Wieder einmal standen wir – meine Frau, unsere Tochter, meine Eltern und ich – erwartungsvoll vor der Wohnzimmertür. Ich drückte den Einschaltknopf auf der Fernbedienung.Nichts passierte.

Ich schluckte. Was ist da los? Sind die Batterien leer? Nein, die hatte ich extra vorher nochmal ausgewechselt und getestet. Ich drückte nocheinmal. Wieder nichts. Während unsere Tochter vor uns immer noch wie gebannt auf die Tür starrte, konnte ich in meinem Nacken förmlich spüren wie sich alle Augen mit fragenden Blicken auf mich richteten. Ich versuchte es nocheinmal, wieder ohne Ergebnis, und wurde immer nervöser. Auch unsere Tochter wurde langsam unruhig. Ich wusste nicht was ich machen sollte, überlegte fieberhaft was ich wohl am besten sage… Dann kam sie mir zuvor.

„Vielleicht kann das Christkind unser Haus nicht finden? Draußen schneit es ja so stark!“„Ja, vielleicht.” Mehr fiel mir nicht ein. Ich begann völlig zu verkrampfen.

Sie drehte sich um und sah mich fragend an. „Und wenn wir es rufen? Vielleicht hört es uns und findet uns dann?“

Bevor ich etwas antworten konnte sagte von hinter mir mein Vater: „Ich glaube das Christkind würde sich sehr freuen wenn du ‘Stille Nacht’ singst, dann würde es uns sicher hören und wissen wo es hinkommen soll!“

Mir war alles recht was mir mehr Zeit zum Nachdenken verschaffte. Während sie sich wieder Richtung Tür drehte und mit der ersten Strophe begann, rasten die Gedanken in meinem Kopf. Was sollte ich tun? Ich kann jetzt nicht reingehen, ich habe ihr gesagt dass das Christkind unbedingt ungestört bleiben muss… Sie sang unbekümmert weiter. Es schien eine halbe Ewigkeit zu vergehen.

Mit einem Schlag hörte sie auf. „Schau Papa, es hat funktioniert, da ist es!“ Sie zeigte, freudig hüpfend, auf die Tür.

Und tatsächlich. Helles Licht tanzte durch das Wohnzimmer.

„Können wir jetzt hineingehen?“ fragte unsere Tochter, als es schließlich wieder erloschen war. Ohne auf meine Antwort zu warten nahm sie meine Frau und mich an der Hand und zog uns mit sich.

Ich war immer noch wie gelähmt. Heimlich verstaute ich die nutzlose Fernbedienung in meiner Hosentasche, sperrte die Tür auf und öffnete sie zaghaft. Als wir alle gemeinsam in das Wohnzimmer traten konnte ich meinen Augen nicht trauen: Der Lichtstrahler war weggeräumt, und auch alles andere sah so aus wie es sollte – bis auf die Terassentür, die einen Spalt offenstand. Während unsere Tochter auf die Pakete zustürzte standen wir anderen für einen Moment nur still da und bewunderten die sanft flackernden Kerzen auf dem Christbaum. Plötzlich hörte ich etwas hinter mir. Auch unsere Tochter drehte sich um und schaute in Richtung der Tür.

„Wo warst du, Opa?“

„Ich hab dringend aufs Klo müssen, hoffentlich ist mir das Christkind nicht böse.“ sagte er, als er mit Spuren von Schnee auf seiner Hose, die nur ich zu bemerken schien, in den Raum trat, mir lächelnd eine kaputte Glühbirne in die Hand drückte, und schnell eine große Taschenlampe unter dem Sofa verschwinden ließ.